Wien (OTS) – Werte Medienvertreter!

Auf Bitten vieler besorgter Bürger und als Ergebnis der gestrigen
überparteilichen Konferenz „Verteidigung unserer Neutralität – NEIN
zu einem NATO-Beitritt Österreichs“, bei der ein wichtiger
Themenpflock für die Republik Österreich eingeschlagen wurde, liegt
mir der nachstehende „OFFENE BRIEF“ für unsere Republik Österreich
und den Erhalt unserer Neutralität besonders am Herzen. Diesen möchte
ich Ihnen nun zur Kenntnis bringen:

Offener Brief zu „70 Jahre Österreichischer Staatsvertrag und
immerwährende Neutralität“

an den Bundespräsidenten der Republik Österreich, den Präsidenten
des Nationalrates und die Abgeordneten zum Österreichischen
Nationalrat

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Dr. Alexander van der Bellen!

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Dr. Walter Rosenkranz,
lieber Walter!

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete zum Nationalrat der
Republik Österreich!

Mit der Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrages am
15. Mai 1955 im Schloss Belvedere wurde nicht nur die staatliche
Souveränität Österreichs wiederhergestellt. Zugleich wurde eine
Verpflichtung übernommen, die weit über tagespolitische Interessen
hinausreicht – die immerwährende Neutralität.

Am 26. Oktober 1955 bekannte sich Österreich durch das
Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität eindeutig:

„Zum Zwecke der Aufrechterhaltung und Sicherung seiner
Unabhängigkeit und zur Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt
Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität.“ (Art.
1 B-VG, BGBl. Nr. 211/1955)

Dieses Gesetz ist kein bloßer historischer Text. Es ist ein
verfassungsrechtliches Gelöbnis und ein Pfeiler unserer nationalen
Identität – eingebettet in die Erfahrung von Krieg, Besatzung und
Teilung.

1. Neutralität als Staatsräson

Neutralität ist kein sentimentales Erinnerungsstück, sondern eine
strategische Doktrin moderner Sicherheitspolitik. Sie machte
Österreich zum Stabilitätsfaktor in Mitteleuropa, zum internationalen
Vermittler und zum Verhandlungsplatz von Weltrang. Dass Wien heute
UNO-Sitz, OSZE-Zentrale und Schauplatz unzähliger diplomatischer
Initiativen ist, ist einzig dieser Haltung – unserer Neutralität –
geschuldet.

Bundespräsident Dr. Karl Renner nannte die Neutralität „eine neue
Form der aktiven Sicherheitspolitik“. In Wahrheit ist sie noch weit
mehr: Sie ist die unverwechselbare, mahnende und vermittelnde Stimme
Österreichs in der Weltpolitik.

2. Verfassungsrechtliche Verantwortung

Die Neutralität steht im Rang eines Verfassungsgesetzes. Sie ist
weder disponibel, noch verhandelbar und schon gar nicht dem Gutdünken
temporärer parteipolitischer Mehrheiten ausgesetzt. Art. 9a B-VG
verpflichtet Österreich zur umfassenden Landesverteidigung –
militärisch, geistig und politisch.

Dazu gehören die wehrhafte Bewahrung und Verteidigung unserer
Neutralität. Eine Aushöhlung – sei es durch eine EU-
Militärintegration, durch Teilnahme an fremden Rüstungsprojekten oder
durch die Finanzierung indirekter Kriegsbeteiligungen – wäre nicht
nur politisch kurzsichtig, sondern ein evidenter Verfassungsbruch.

3. Historische und staatspolitische Dimension

70 Jahre nach dem Staatsvertrag steht Österreich an einem
Scheideweg von historischer Tragweite: Wollen wir Neutralität aktiv
leben – als glaubwürdige Stimme für Frieden, Dialog und Ausgleich?
Oder verwandeln wir sie in eine leere Worthülse, während wir faktisch
fremden Machtblöcken dienstbar werden?

Der damalige Außenminister Leopold Figl rief 1955 mit Tränen in
den Augen: „Österreich ist frei!“ Heute müsste der Ruf lauten:
„Österreich ist neutral – und bleibt es!“

4. Appell an die Verantwortungsträger

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrter Herr
Nationalratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

Sie alle tragen eine große Verantwortung gegenüber der Verfassung
Österreichs, der Geschichte und dem Volk. Daher gilt es, die
Neutralität nicht nur zu bewahren, sondern aktiv zu revitalisieren:

als Friedensinstrument in einer Welt der neuen
Blockkonfrontationen,

als Identitätskern der Zweiten Republik,

als unverrückbaren Verfassungsauftrag, der über jede
parteipolitische Opportunität hinausreicht.

Neutralität ist nicht Option, sondern Obligation.

Sie ist nicht Taktik, sondern Staatsräson.

Sie ist nicht Relikt, sondern Zukunftschance.

Schlusswort

70 Jahre nach dem Staatsvertrag ist es Zeit, die Neutralität
wieder als das zu begreifen, was sie ist: ein Vermächtnis – und ein
Versprechen. In einer Welt voller Unsicherheit kann Österreich nur
dann glaubwürdig bleiben, wenn es an seinem Schwur festhält.
Neutralität darf kein Lippenbekenntnis sein, sondern muss politisches
Handeln leiten.

„Österreich ist neutral – Österreich bleibt neutral.“

Das ist keine Formel der Vergangenheit, sondern ein Auftrag für
Gegenwart und Zukunft.

Mit Respekt und Nachdruck,

Heinz-Christian Strache
Vizekanzler a.D. der Republik Österreich