Wien (OTS) – „Das tragische und verstörende Drama in Graz führt bei
den meisten
Menschen zu der Frage: Lässt sich so etwas verhindern, und wenn ja,
wie?“, eröffnete Johannes Steinhart, Präsident der Österreichischen
Ärztekammer, sein Statement im Rahmen einer heutigen Pressekonferenz.
Zahlreiche Studien hätten leider gezeigt, dass die psychische
Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in den vergangenen Jahren
gelitten habe: „Die derzeitige Versorgungssituation zeigt den enormen
Handlungsbedarf, der hier auf die österreichische Gesundheitspolitik
zukommt“, unterstrich Steinhart und verwies auf die Wartezeitenstudie
der Ärztekammer für Wien, die im vergangenen Jahr gravierende
Versorgungsmängel im psychiatrischen Bereich offengelegt hatte. Es
sei sinnvoll, mit psychosozialer Prävention und Intervention dort
anzusetzen, wo die Menschen leben, lernen und arbeiten, bei Kindern
und Jugendlichen seien das die Schulen: „Dort können psychiatrische
Beschwerden und Erkrankungen entstigmatisiert werden, dort kann
beraten und gegebenenfalls zu einer Untersuchung und Behandlung
geraten werden“, so Steinhart, der eine verbindliche Integration von
psychosozialer Aufklärung in die Lehrpläne der Schulen forderte.
„Schülerinnen und Schüler müssen wissen, worum es bei psychosozialen
Krisen geht, auf welche Anzeichen sie bei sich und anderen achten
sollten, und wo es psychosoziale Erste Hilfe gibt. Und natürlich
müssen Lehrerinnen und Lehrer entsprechend instruiert und geschult
werden“, betonte Steinhart. Außerdem müssten zum Beispiel die
Möglichkeiten einer niedrigschwelligen Online-Krisenintervention oder
auch Psychotherapie bedarfsgerecht ausgebaut werden, so der ÖÄK-
Präsident. In adaptierter Form gelte das alles auch für Erwachsene
und ihre Arbeitsplätze: „Auf den Punkt gebracht heißt das: Hinschauen
statt Wegschauen, aktives Zuhören statt Weghören, Hilfsangebote und
ärztlichen Rat einholen statt einfach Zuwarten“, sagte Steinhart. Der
psychischen Gesundheit müsse in der öffentlichen Wahrnehmung, aber
auch bei den finanziellen Prioritätensetzungen der Gesundheitspolitik
und der Sozialversicherungen ein höherer Stellenwert gegeben werden.
Zwtl.: Kinder- und Jugendpsychiatrie in bestehende Kinder-PVEs
integrieren
Der Mangel an Kinder- und Jugendpsychiatern in Österreich,
besonders im niedergelassenen Bereich, sei ein akutes und wachsendes
Problem, ergänzte Dietmar Bayer, stellvertretender Obmann der
Bundeskurie niedergelassene Ärzte und Facharzt für Psychiatrie und
Psychotherapeutische Medizin im steirischen Leibnitz: „Die Zahlen
zeigen uns, dass es in Österreich gerade einmal 59 Kassenärzte für
Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt, also 0,64 pro 100.000 Einwohner.
Selbst wenn man alle niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte mit der
Fachberechtigung Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. Kinder- und
Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin zählen würde, käme
man auf eine Quote von gerade einmal 1,49 pro 100.000 Einwohner.“
Auch in der „Erwachsenenpsychiatrie“ liege Österreich international
im Hintertreffen: 408 Kassenärzte für Psychiatrie bedeuten eine Quote
von 4,4 pro 100.000 Einwohnern, legte Bayer dar. Eine koordinierte,
umfassende und nachhaltige Strategie zur Stärkung der Versorgung in
der Kinder- und Jugendpsychiatrie sei unerlässlich. Eine Möglichkeit
des Ausbaus wäre die Integration der Kinder- und Jugendpsychiatrie in
bereits bestehende Kinder-Primärversorgungseinheiten sowie die
Möglichkeit, eigenständige psychiatrische Primärversorgungseinheiten
(PVE) gründen zu können. Zudem sollten regionale, vernetzte
Versorgungsnetzwerke mit Schwerpunkt auf die psychische Gesundheit
zwischen allen Sektoren – ambulant, tagesklinisch, stationär –
aufgebaut werden. Der Fokus müsse stark auf die Frühintervention
gesetzt werden, denn psychische Erkrankungen würden oft erst im
fortgeschrittenen Stadium erkannt. „Die Politik sollte hier massiv
Geld in die Hand nehmen, nicht nur trotz des aktuellen Budgetlochs,
sondern gerade deshalb“, sagte Bayer. Es sei bekannt, dass Menschen
in schwierigen Situationen noch mehr Unterstützung benötigen würden.
Die Versorgungsziele des Österreichischen Strukturplans Gesundheit
seien bisher nicht erreicht worden. „Für die flächendeckende
Versorgung im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie auch
der Erwachsenenpsychiatrie ist es daher unbedingt notwendig, dass die
Österreichische Ärztekammer beziehungsweise auch die
Landesärztekammern in den jeweiligen Zielsteuerungskommissionen mit
Sitz und Stimme vertreten sind“, betonte Bayer.
Zwtl.: Plener: Versorgungsmangel trifft auf deutlich steigende
Nachfrage
Die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung stehe vor vielen
Herausforderungen, betonte auch Paul Plener, Leiter der Abteilung für
Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medizinischen Universität Wien
und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und
Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP): „In den
vergangenen Jahren konnten viele Verbesserungen umgesetzt werden, wie
etwa eine Veränderung des Ausbildungsschlüssels, das Schaffen einer
Rechtssicherheit für die Weiterbehandlung bis zum 25. Lebensjahr, und
die Aufnahme der KJP als Wahlmodul für die neue Ausbildungsordnung
für Allgemeinmedizin“, hielt er fest. Dennoch existiere ein Mangel an
kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungsplätzen im
niedergelassenen wie im stationären Setting bei gleichzeitig deutlich
steigender Nachfrage nach kinder- und jugendpsychiatrischer
Versorgung. Neben dem Ausbau der stationären Behandlungsplätze,
müssten stationsäquivalente Behandlungsformen wie das Home-Treatment
in die Regelbehandlung überführt werden. „Parallel dazu benötigt es
einen Ausbau der kassenfinanzierten kinder- und jugendpsychiatrischen
Behandlungsplätze im ambulanten Bereich“, so Plener, der ergänzte:
„In der Versorgung ist darauf zu achten, dass die Gruppe der
psychisch kranken Kinder und Jugendlichen auch in der Sicherstellung
der medikamentösen Versorgung berücksichtigt wird. Ebenso ist zu
fordern, dass die Überweisungspflicht für Fachärzte in der Kinder-
und Jugendpsychiatrie keine Anwendung findet und auch im
niedergelassenen Bereich die Finanzierung der Weiterbehandlung über
das 18. Lebensjahr hinaus gesichert ist.“ Zudem benötige es eine
Attraktivierung der Ausbildung, durch eine volle Übernahme der
Ausbildungskosten durch die Länder und die Förderung von Lehrpraxen,
unterstrich Plener.